Heute kann ich es nicht länger vor mir herschieben. Es wird dringend Zeit mein Arbeitszimmer aufzuräumen und endlich Dokumente zu sortieren und abzuheften. Mit überschaubarer Begeisterung mache ich mich an einem kalten und verregneten Wintertag an die Arbeit. An Motorradfahren ist heute sowieso nicht zu denken…
Schon nach kurzer Zeit fällt meine Aufmerksamkeit auf eine ausgedruckte Excel Tabelle. Eine Aufstellung von Bundesländern und Tankstellen nebst zugehöriger Adresse.
Das ist ein Ablaufplan für einen 16/24 Ride der Iron Butt Association Germany. Also der Plan für eine Tour, bei der man alle 16 Bundesländer innerhalb von 24 Stunden mit dem Motorrad anfahren muss und den Ride im Anschluss dort beendet, wo er begonnen hat. Als Beweis, dass man tatsächlich im jeweiligen Bundesland war, benötigt man einen maschinengeschriebenen Beleg einer Tankstelle. Lt. dem Plan, den ich gerade in den Händen halte, eine Strecke von 1818 Kilometern, die man inklusive tanken und Pausen in 22 Stunden und 30 Minuten zurücklegen kann.
Von mir ist dieser Plan nicht. Aber mir wird ganz schnell bewusst, wer diese Tour zusammengestellt und berechnet hat. Eine kalte Hand scheint sich auf meinen Magen zu legen und eine bekannte Traurigkeit holt mich ein…
Diesen Plan hat mein langjähriger Freund Michail erstellt, den viele von Euch in meinen älteren Reportagen als „Reisebegleiter“ kennen und der leider vor zwei Jahren tödlich verunglückt ist.
Jetzt kann ich mich auch wieder an diesen Plan erinnern. Mein Freund wollte diese Tour fahren, um damit seinen Eintritt in die Iron Butt Association zu belegen. Um dort Mitglied werden zu können, muss man nachweislich eine Tour von mindestens 1600 Kilometern Länge in 24 Stunden gefahren sein.
Ihr könnt Euch sicher denken, zu welchem Entschluss ich innerhalb von ein paar Minuten komme. Natürlich! Mein Freund kann diese Tour nicht mehr fahren. Aber ich kann für ihn unterwegs sein!
Die IBA bietet die Möglichkeit an „Memorial Rides“ zu fahren. Also Rides der Iron Butt Association, die im Andenken an einen Verstorbenen gefahren werden. Dessen Name und sein Geburts- und Todestag werden auf der Urkunde erwähnt.
Mein Vorhaben steht fest!
Es sollen allerdings noch einige Monate vergehen, bis das Wetter in der ersten Juni Woche endlich stabil genug für ein solches Unterfangen ist.
Die Zeit bis dahin verbringe ich damit, die Details des Plans zu prüfen. Existieren die Tankstellen noch? Liegen sie tatsächlich im benötigten Bundesland? Haben sie 24 Stunden am Tag geöffnet?
Und tatsächlich. Nach einigen Stunden der Prüfung, bin ich davon überzeugt, dass dieser Plan funktionieren kann.
Am ersten Wochenende im Juni geht es los. Der Freitag ist noch gefüllt mit finalen Vorbereitungen. Meine Kawasaki Versys 650 will final gecheckt und bereit gemacht werden. Luftdruck prüfen, Kette ölen, Koffer und Navis montieren. Die übrige Ausrüstung, vom Regenkombi, über einen vollgeladenen MP3 Player, bis zu einer mit frischen Batterien bestückten Taschenlampe müssen verpackt werden. Damit ich keine Zeit an Raststätten verschwende, bereite ich mir zusätzlich noch etwas zu Essen für unterwegs vor.
Da dies nicht mein erster IBA Ride ist, weiß ich mittlerweile, dass es mir nicht hilft, früher als gewohnt schlafen zu gehen. Die Aufregung würde mich sowieso nicht zur Ruhe kommen lassen. Also gehe ich zur gewohnten Zeit ins Bett und stelle mir keinen Wecker. Ich will von alleine wach werden und so ausgeruht wie möglich den Ride beginnen.
So richtig gelingt das allerdings nicht. Bereits um 05:30 Uhr treibt mich das Adrenalin aus dem Bett. Nach einem kurzen Frühstück und einem starken Kaffee mache ich mich gegen 06:00 Uhr auf den Weg zur ersten Tankstelle, die gleichzeitig mein Beleg für „Hessen“ sein soll.
Knapp 20 Minuten dauert die Anreise von meinem Zuhause in Idstein bis zur Tankstelle in der Nähe von Wiesbaden. Zeit genug, um die bevorstehende Tour noch einmal im Kopf durchzugehen und an meinen verstorbenen Freund zu denken, für den ich die nächsten 24 Stunden unterwegs sein will…
Der Plan sieht folgende Route und Details vor:
Besonders wichtig wird heute werden, bei jedem Tankstopp die richtige Menge an Benzin aufzunehmen. Manche Tankstellen liegen so nah beieinander, dass nur wenige Liter benötigt werden. Es wäre ein unnötiges Problem, wenn man mit einem randvollen Dank an einer Tankstelle ankäme und nicht wüsste wohin mit den nächsten Litern. Zum Glück hat mein Freund Michail das bei seiner Planung bereits bedacht und pro Stopp eine Tankmenge notiert.
Um 06:39 Uhr ist es dann endlich so weit. Ich habe 10 Liter getankt und halte den ersten Beleg in meinen Händen. Dank der neuen IBA Regel benötigt man nicht mehr zwangsläufig einen Augenzeugen in Start und Ziel. Es genügt ein Foto, auf dem der Kilometerstand des Motorrads und der Tankbeleg sichtbar sind.
Los geht´s… Als erstes Bundesland geht es ins „Saarland“. Das erste und gleichzeitig das „unbequemste“ Bundesland. „Unbequem“ , weil es nicht auf meinem Rundkurs liegt, sondern einen Abstecher Richtung Osten bedeutet.
Und so beginnt das „Abarbeiten“ eines Bundeslandes nach dem anderen. Pro Tankstopp sind 10 Minuten Pause geplant. Wie sich herausstellt eine sehr großzügig bemessene Zeit. Da ich an den meisten Tankstellen weder auf eine freie Zapfsäule, noch an der Kasse warten muss, kann ich viel Zeit gut machen. Inklusive der Dokumentation des jeweiligen Kilometerstands und dem sorgfältigen Verstauen des Tankbelegs, bin ich häufig bereits nach 5 Minuten wieder auf der Bahn. Was ein Glück, dass ich vor einigen Jahren mit dem Rauchen aufgehört habe…Würde nur unnötig Zeit kosten.
Stunde um Stunde vergeht. Mein Kilometer- und Bundeslandkonto steigt stetig an. Die erste von insgesamt 3 längeren Pausen, hat mein Freund nach 738 Kilometern und 7 Bundesländern in Sachsen geplant. 30 Minuten um etwas zu essen und mir ein wenig die Füße zu vertreten. Nicht gerade eine ausgedehnte Pause, aber ausreichend.
Petrus ist halt doch in seinem tiefsten inneren ein IBA Member. Obwohl es in den letzten Tagen immer wieder geregnet hat, spielt das Wetter heute, bis auf einige wenige Tropfen in Thüringen, gut mit. Dass soll sich auch während des restlichen Tages nicht ändern.
In den späten Mittagsstunden fliegen die einzelnen Bundesländer nur so an mir vorbei: Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sind innerhalb weniger Stunden abgehakt.
In Berlin habe ich das erste kleinere Problem zu lösen. Wo die geplante und gemäß Internet auch existente Tankstelle sein sollte, klafft eine kahle Lücke zwischen den Grundstücken. Also muss ich schnell improvisieren und eine Alternativ Tankstelle ansteuern. Eigentlich kein Problem. Allerdings beinhaltet die Planung nur 90 Minuten Puffer und allzu viel davon möchte ich im dichten Berliner Nachmittagsverkehr nicht opfern. Zudem hängt die Sommerwärme wie eine Glocke über der Stadt, die Berliner fahren wie die Wilden und ich möchte wieder raus auf die Autobahn. Garmin sei Dank ist eine Tankstelle in der Nähe schnell gefunden und ich verliere nicht viel Zeit. Trotzdem mag ich es auf solchen Rides lieber, wenn ich einfach nur den Plan „abfahren“ kann.
Zwischen Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gönne ich mir eine weitere kurze Pause. Einfach mal durchatmen. Ungefähr 1000 Kilometer und 10 Bundesländer liegen bereits hinter mir.
Es ist mittlerweile Abend geworden und in Schleswig Holstein scheine ich das einzige Fahrzeug weit und breit zu sein. Was für ein angenehmes Fahren. Einfach dahingleiten ohne großartig auf den Verkehr achten zu müssen. Meine Gedanken wandern, wie so häufig heute zu meinem Freund Michail. Wie viele tausende Kilometer sind wir zusammen durch Europa gefahren? Welche Länder wollten wir noch zusammen unter die Räder nehmen? Aber egal, wie oft ich heute in meine Rückspiegel blicke, der auf so vielen Touren gewohnte Anblick ist nicht da…
Bei meinem Tankstopp in Bremen gibt es das nächste kleinere Problem. Der Tankbeleg beinhaltet keine Uhrzeit. Zum Glück findet die Kassiererin meine Begründung, dass ich für diese Uhrzeit ein Alibi brauche so überzeugend, dass sie die Uhrzeit lachend handschriftlich nachträgt und das Ganze mit Unterschrift und Stempel bestätigt.
Und die Nacht wird wie befürchtet eine ganz schöne Qual. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens und dichter Nebelfelder in NRW komme ich nicht in der geplanten Zeit voran. Mein Zeitpuffer beginnt zu schmelzen. In der Nähe von Bielefeld bemerke ich zudem, dass mein Garmin Etrex 10 Tracker dringend neue Batterien benötigt. Den Tracker benutzte ich zum einen als permanent sichtbaren Reise-Computer, der mich mit Informationen über bereits genutzte Fahr- und Pausenzeiten versorgt und zum Anderen zur detaillierten Aufzeichnung meiner gefahrenen Route. Ich habe eigentlich eine feste Regel: Nachts fahre ich nur auf Raststätten und nicht auf Autobahnparkplätze. Aber, wenn die Aufzeichnung nicht abreißen soll, muss ich heute wohl oder übel eine Ausnahme machen. Also Blinker raus und ab auf den nächsten Rastplatz. Der Parkplatz ist nur spärlich beleuchtet und ich bin aktuell das einzige Fahrzeug. Mit Hilfe meiner Taschenlampe krame ich in meinem Tankrucksack nach Ersatzbatterien, als plötzlich ein Auto langsam an mir vorbei fährt. Im Auto ist nur ein Fahrer, der das Beifahrerfenster herunterlässt und mich neugierig beobachtet. Was war das denn für ein Vogel?! Als sich das gleiche Spiel allerdings zwei Minuten später wiederholt, wird mir klar, wo ich hier gelandet bin. Jetzt weiß ich wieder, warum ich nachts nur auf Raststätten halte. Nichts wie weg hier…
Die Uhr scheint immer schneller zu laufen. Die Zeit beginnt mir davon zu laufen. Ob ich es wirklich bis 06:39 Uhr wieder bis zu meiner ersten Tankstelle in Wiesbaden schaffe? Langsam geht die Sonne auf und der Betrieb auf der Autobahn nimmt wieder etwas zu. Zudem quält mich die Müdigkeit und der Gedanke daran, jetzt irgendwo auf einer Raststätte eine Stunde zu schlafen wird von Minute zu Minute attraktiver.
ABER NEIN! Ich bin nicht so weit gekommen, um dann knapp 100 Kilometer vor der letzten Tankstelle aufzugeben. Ich beginne ein lautes und buntes Schlager-Potpourri in meinen Helm zu singen. Ich kann es noch ins Ziel schaffen und habe dann sogar noch 20 Minuten Puffer. Kilometer um Kilometer spule ich ab und je näher ich Wiesbaden komme, desto mehr steigt mein Hochgefühl. Ich weiß jetzt, dass ich es schaffen werde. Noch 20, noch 10, noch 5 Kilometer. Um 06:19 Uhr ist es dann endlich so weit. Ich habe es geschafft. Noch schnell für den letzten Beleg tanken und ein finales Foto von Beleg und Kilometerstand und alle 16 Bundesländer sind innerhalb von 24 Stunden besucht!
Mit dem Gefühl eines Siegers mache ich mich auf den Weg für die letzten 20 Kilometer des Tages nach Idstein. Zeit spielt dabei keine Rolle mehr.
Der Plan von meinem Freund Michail hat tatsächlich funktioniert. Schade, dass wir ihn nicht, wie unsere vielen anderen Touren zusammen fahren konnten.
Aber ich bin mir ziemlich sicher in den letzten 24 Stunden nicht ganz alleine unterwegs gewesen zu sein…